Texte

STATION. digitale Nachlassverwaltung.
In: „Evangelisch im Freiburger Osten", Gemeindebrief Fruehjahr 2012, S. 10-11.
Kirche, Kultur, Kunst:
Zur Ausstellung von Chris Popović im Ernst-Lange-Haus Freiburg
Einführungsworte zur Vernissage am 7. Dezember 2011


Seit März 2011 zeigt die Evangelische Kirche im Ernst-Lange-Haus wechselnde Ausstellungen, die sehr unterschiedlich profiliert sind. Je nach Person, Genre und Stil der Kunstschaffenden entstehen dabei spannende Wechselwirkungen: Der Charakter des Hauses verändert sich je nach Ausstellung, je nach den gezeigten Arbeiten; und umgekehrt wirkt das Haus in seiner Architektur und seiner räumlichen Ausstrahlung auf die Wahrnehmung der Bilder. Besucher der Ausstellungen und die Beschäftigten im Haus setzen sich immer wieder neu diesen Wechselwirkungen aus und ergreifen dabei Position - oft schnell, spontan, aus dem Bauch heraus: „Gefällt mir!“ - „Gefällt mir nicht!“. Abgehakt! So schnell, wie da entschieden wird, so schnell schließen sich damit oft die Türen zu einem tieferen Verstehen, zu weiteren Ein-Sichten und einer tieferen Auseinandersetzung mit den Arbeiten.

Schade um die verpassten Chancen! Denn Kunst ist das Spiel mit der Wirklichkeit, ist kreativer Ausdruck von Sichten, Wahrnehmungen und Interpretationen. Wer sich darauf einlassen kann, dem verhilft sie dazu, tiefer zu blicken, weitere, neue Dimensionen zu entdecken, so mit dem eigenen Standpunkt zu spielen und ihn in Gespräch mit anderen zu bringen.

In diesem Sinne will ich Ihnen etwas von meinem ganz persönlichen, individuellen Zugang zu dieser Ausstellung mitteilen. Er erschließt sich mir unter dem Stichwort „Spannungsfelder“. Da ist gleich auf den ersten Blick ein Spannungsfeld, das durch die Formen entsteht. Es geht um rund und eckig: die runde Form der digitalen Scheibe im eckigen Bildformat nimmt die Architektur des Hauses auf mit seinem runden Zentralbereich im eckigen Basement - das Runde im Eckigen.

Ein zweites Feld beschreibt die Spannung zwischen dem Sujet, der digitalen Scheibe, und der Art und Weise, wie es verbildlicht wird. Die dargestellten Objekte entstammen der digitalen Welt. Die Formen und Veränderungen an den runden Scheiben lassen ganz ungefragt die „digitale“ Hand vermuten, die Bearbeitung der Bilder am PC, wie sie heute üblich ist. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Aufnahmen entstammen der analogen Fotografie mit der klassischen Hasselblatt-Kamera. Die Veränderungen auf der Oberfläche der digitalen Scheiben sind den Objekten von der Künstlerin mit verschiedenen Werkzeugen in der Realität beigebracht worden, die Farben entstanden vor der Linse „live“ in Resonanz zu den unterschiedlichen Lichtverhältnissen, unter denen sie aufgenommen wurden.

Schließlich tut sich dem Betrachter ein weiteres Spannungsfeld auf: die fabrikneue digitale Scheibe ist in ihrem Ursprungszustand ein Bild der Perfektion und Unvergänglichkeit. Hier nun in den Manipulationen an den CD-Scheiben ist sie der Zerstörung ausgesetzt und der Vergänglichkeit. Das Perfekte zeigt sich als beschädigt.

Und dann zu guter Letzt erlebe ich in dieser Bilderserie eine anregende Spannung zwischen Uniformität und Individualität. Bei absoluter Übereinstimmung der Serie im Blick auf Größen, Formate und Formen besteht eine absolute Differenz, was die Farben und die zugrunde liegenden Lichtverhältnisse betrifft, was die Manipulation der Objekte und die Methoden der Einwirkung angeht. Alle Bilder gleichen sich und zugleich ist kein Bild dem anderen gleich.

Dieser Aspekt bekommt schließlich durch den Ausstellungstitel („STATION. digitale nachlassverwaltung“) noch einmal eine eigene Bedeutung. STATION erinnert an Klinik und ans Altersheim, an den „Blindarm auf 105“. Bewahrung der Individualität im „Massenbetrieb“, in der Uniformität ist ein ewig unerledigtes Thema. Und damit verbindet sich der Begriff der „digitalen Nachlassverwaltung“, eine Dienstleistung, des digitalen Zeitalters, in dem jeder und jede eine Fülle persönlicher Spuren hinterlässt, die „auf ewig“ überdauern, wenn nicht einer sich nach dem Ableben des anderen darum kümmert, sie zu tilgen. Das ist digitale Nachlassverwaltung. Erneut wird darin eine Spannung wahrnehmbar, nämlich zwischen der irdischen Vergänglichkeit und dem endlosen Überdauern der gespeicherten Daten, die das Individuum in der digitalen Welt hinterlässt. Die CD-Scheiben der Ausstellung repräsentierten Erinnerung, Gedächtnis und deren Beschädigung. Alzheimer lässt grüßen. Die Bilder zeigen Ablagerungen auf der Gedächtnisscheibe, Brüche, Lücken - in je ganz individuellen Ausprägungen. So werden die fotografierten Scheiben gleichsam zu Repräsentanzen individueller Lebensgeschichten, Erinnerungsgeschichten, Zerfallsgeschichten, Repäsentanz persönlicher Biographien, von denen manchmal noch ein Leuchten und ein Glanz ausgeht, selbst bei schwerster Beschädigung... Mit den Bildern dieser Ausstellung ist es wie mit den Farben auf den dargestellten Objekten: Die Bedeutungen schillern...
Wolfgang Schmidt

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